(Angst)Hund will nicht spazieren gehen
Du hast einen “etwas unsicheren“ Hund aus dem Tierschutz übernommen und dich darauf eingestellt, dass er Zeit und Geduld braucht.
Aber, dass er gar nicht spazieren gehen kann oder beim Spaziergang plötzlich nicht mehr weitergehen will, vielleicht sogar panisch weglaufen würde, wäre er nicht doppelt und dreifach gesichert?
Das hast du beim besten Willen nicht erwartet und langsam gehen dir die Ideen aus?
Dann geht’s dir wie sehr vielen Hundeeltern mit (Angst)Hunden aus dem Tierschutz und manchmal sogar vom “Züchter“.
Über die Jahre – Jahrzehnte – Jahrhunderte mit unseren Hunden haben wir Menschen irgendwie die Erwartungshaltung entwickelt: “Hunde gehen spazieren“.
Doch eigentlich ist das ursprünglich eher unser menschliches Bedürfnis.
Hunde gehen in der freien Wildbahn sehr wenig auf Wanderschaft. Sie legen insgesamt über den Tag verteilt durchschnittlich etwa 2km zurück.
Jetzt kann man freilebende Hunde nur bedingt mit unseren Rassehunden vergleichen, was das Bewegungsbedürfnis angeht. Allerdings sind die meisten Angsthunde ihren wilden Verwandten oft deutlich näher als unseren menschlichen Rassekreationen (kommt natürlich darauf an, ob es sich um einen adoptierten Straßenhund handelt oder um einen Hund, der doch irgendwie aus Rassehunden entstanden ist und in Familien aufgewachsen ist).
Wir können also festhalten, nicht jeder Hund hat grundsätzlich das Bedürfnis, stundenlang zu spazieren.
Die Angst vor oder beim Spaziergang ist allerdings für keinen Hund schön und wir müssen etwas daran ändern.
Dazu können wir uns im ersten Schritt ansehen, woher sie kommt.
Haben wir einen Hund vor uns, der sich generell unwohl/unsicher fühlt und jederzeit mit dem nächsten Monster-Angriff rechnet?
Fürchtet sich der Hund an einer bestimmten Stelle? Wenn ja, wovor? Ist das erkennbar? Wenn nicht, könnte es sich um einen bestimmten Geruch handeln, oder unser Angsthund hat den Ort mit einer traumatischen Erfahrung verknüpft.
Wir kennen das von uns selbst, wenn wir nach einem besonders schlimmen Horrorfilm plötzlich Orte meiden, die ähnlich aussehen wie die Filmszenen, oder wenn wir mit dem Auto mal ins Schleudern gekommen sind, wird uns flau im Magen, wenn wir an dieselbe Stelle kommen, obwohl die Straßenverhältnisse ganz anders sind und das Auto gar keine Anstalten macht.
Vielleicht sperrt dein Hund aber auch gar nicht an einer bestimmten Stelle, sondern immer, wenn euch etwas/jemand begegnet, oder er ein bestimmtes (oder verschiedene) Geräusch/e hört.
All diese Informationen sind wichtig, um gezielt daran arbeiten zu können.
Bis du herausgefunden hast, woran es genau liegt, kannst du jedenfalls schon mal damit beginnen, Spiele und Übungen für das generelle Selbstbewusstsein deines Hundes in den Alltag zu integrieren.
Eine wunderbare Möglichkeit hierfür sind Hindernisparcours. Allerdings nicht die typischen high-speed Agility Geschichten, sondern Parcours, die langsam und bewusst überwunden werden, sodass dein Angsthund ein besseres Gefühl für den eigenen Körper bekommt.
Denn wer eine gute Kontrolle über und ein gutes Gefühl für den eigenen Körper hat, kann sich auch in der Umwelt sicherer fühlen.
Kleiner Profitrick: Locke deinen Hund niemals mit Futter über ein Hindernis und zwinge ihn noch viel weniger in irgendeiner Form, darüber zu gehen. Entweder nutzt du ein Handtarget, oder du versteckst Futter überall im Parcours und lässt deinen Hund frei arbeiten (es liegen dabei auch immer Futterbröckchen zwischen den Hindernissen, sodass dein Hund wirklich die Wahl hat, ob er sich überwinden will oder nicht… das ist echte Freiwilligkeit/Zwanglosigkeit).
Als Hindernisse eignen sich beispielsweise alte Autoreifen und Holzpaletten (gibt’s gratis) aber auch deine Wohnungseinrichtung kannst du einbauen.
Wo wir schon bei der Zwanglosigkeit/Freiwilligkeit sind: die gilt auch für Spaziergänge.
Dein Hund kann nur lernen, dass er sicher ist, wenn ein Ausweg offen bleibt. In dem Moment, wo wir ihn zwingen, kann das Gehirn nur noch in den Notfallmodus umschalten und Lernen wird schwierig bis unmöglich (der logische Teil des Gehirns wird ausgeschaltet und Affekt und Emotionen übernehmen die Steuerung).
Zudem besteht in dem Moment, wo wir die Handlungsfähigkeit wegnehmen, eine große Chance auf Retraumatisierung. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass der Schlüssel beim Erleben eines Traumas darin besteht, ob der Opfer in dem Moment das Gefühl hat, die Situation aus eigener Kraft verbessern zu können.
Hältst du deinen und also in einer Situation, die für ihn furchtbar beängstigend ist, und er hat das Gefühl, dieser hilflos ausgesetzt zu sein, ist Trauma als Folge sehr wahrscheinlich.
Kommst du also mit deinem Hund wieder an einen Punkt, wo er weg möchte, sitzen bleibt, umdreht oder gar nicht erst los will, geh drauf ein.
Das heißt nicht, dass du loslassen oder selbst Panik schieben sollst.
Aber: Möchte dein Hund zurück nach Hause, geh ruhig und zügig zurück nach Hause.
Möchte dein Hund nicht weitergehen und bleibt wie angewurzelt stehen, bleib mit ihm stehen und biete ihm Social Support an. Das kann ein Anlehnen, ein Anfassen oder auch einfach ein ruhiges Zureden sein.
Und dabei rede ich natürlich nicht davon, das in der Mitte einer Straße zu machen. Hausverstand und so. Aber normalerweise zeigen Angsthunde, die einfach stehenbleiben, vorher schon einige Anzeichen dafür, dass ihnen etwas unheimlich ist oder sie sich unwohl fühlen. Ein Video kann helfen, sie zu erkennen.
Möchte den Hund gar nicht erst los, schau mal, wann/wo du die ersten Anzeichen erkennen kannst. Beginnt er schon zu beschwichtigen oder fahrig zu werden, wenn du dich fertig machst?
Versteckt er sich, wenn du zum Geschirr greifst (das kann auch am Geschirr liegen)?
Geht er noch ganz locker mit in den Garten, aber sobald er merkt, dass es Richtung Gartentor geht, ist Schluss?
Geht er zu einer bestimmten Zeit (typische Gassizeit) schon vorsorglich in Deckung?
Jeden dieser Momente müssen wir im gezielten Training einzeln aufbrechen und neu verknüpfen.
Das klappt allerdings nur dann, wenn der Spaziergang danach eine andere Bedeutung bekommt. Es ist also ein Gesamtpaket.
Zuerst braucht dein Hund die Versicherung, dass er nicht (mehr) in die Überforderung gezwungen wird, also keine neuen negativen Erfahrungen.
Dann braucht er neue Assoziationen mit Triggern (Orte, Geräusche, Gerüche, Situationen), generell mehr Selbstbewusstsein und gezielte Übungen, die so positiv sind, dass sie auch funktionieren, wenn es gruselig wird.
Letzteres ist sehr individuell, aber ganz grundsätzlich können wir uns darauf stützen, was natürlich hündisch ist.
Mit gezielten Schnüffelübungen bist du also meistens schon auf einem guten Weg.
Die werden natürlich zu Hause im sicheren Rahmen aufgebaut und immer wieder auch dort wieder aufgeladen.
Nur dann können sie draußen wirklich ihre optimale Wirkung entfalten.